Betriebliches Eingliederungsmanagement auch bei fehlender betrieblicher Interessenvertretung BAG, Urteil vom 30.09.2010 (Az.: 2 AZR 88/09)

Ausgabe 05 | März 2011
Das BAG hatte sich in dem Fall eines aufgrund eines Wirbelsäulenschadens langzeiterkrankten Anlagenmechanikers mit der Frage zu befassen, ob der Arbeitgeber auch dann zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) verpflichtet ist, wenn in seinem Betrieb kein Betriebsrat gebildet wurde. Eingangs seiner Entscheidung bekräftigte das BAG seine Grundsätze zur krankheitsbedingten Kündigung wegen langanhaltender Arbeitsunfähigkeit. Eine Kündigung ist danach in einem solchen Falle sozial gerechtfertigt, wenn eine negative Gesundheitsprognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegt – erste Stufe –, eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen ist – zweite Stufe – und eine Interessenabwägung ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen – dritte Stufe. Bei krankheitsbedingter dauernder Leistungsunfähigkeit ist in aller Regel ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen auszugehen. Die Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit steht einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit dann gleich, wenn in den nächsten 24 Monaten mit einer anderen Prognose nicht gerechnet werden kann. Gemäß § 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, ein BEM durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen krank war. Dem trat die Arbeitgeberin im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens mit dem Argument entgegen, ein BEM habe nicht durchgeführt werden müssen, da in ihrem Betrieb eine betriebliche Interessenvertretung im Sinne von § 93 SGB IX (Betriebsrat) nicht bestehe. Diese Argumentation ließ das BAG allerdings nicht gelten, denn die Durchführung eines BEM sei weder unmöglich noch sinnlos, wenn eine betriebliche Interessenvertretung nicht bestehe. Denn nach der Begründung des Regierungsentwurfs sollen durch das BEM krankheitsbedingte Kündigungen verhindert werden. Durch die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten soll ein BEM geschaffen werden, das durch geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft sichert. Durch diese besonderen Verhaltenspflichten des Arbeitgebers soll damit möglichst frühzeitig eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses eines kranken Menschen begegnet und die dauerhafte Fortsetzung der Beschäftigung erreicht werden. Die Verwirklichung dieses Gesetzeszwecks setzt nicht die Existenz einer betrieblichen Interessenvertretung voraus. Auch und gerade dann, wenn eine betriebliche Interessenvertretung nicht gebildet wurde, ist ein BEM zum Schutz betroffener Arbeitnehmer vor einer vermeidbaren krankheitsbedingten Kündigung geboten Mit seiner Hilfe können z.B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen – gegebenenfalls durch Umsetzungen „frei zu machenden“ – Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden. Die vorliegende Entscheidung des BAG trägt zu einer wünschenswerten Klarstellung der Rechtslage im Bereich des BEM bei, deren Auswirkungen für die betriebliche Praxis durchaus erheblich sind. Fest steht hiernach, dass nicht nur derjenige Arbeitgeber zur Durchführung eines BEM verpflichtet ist, in dessen Betrieb ein Betriebsrat gebildet wurde, sondern alle Arbeitgeber. Es kann daher nur dringend empfohlen werden, in Fällen langanhaltender Krankheit oder wiederholter Kurzerkrankung ein BEM durchzuführen, um in einem etwaigen späteren Kündigungsschutzverfahren nicht bereits aus Gründen einer nicht erfüllbaren Darlegungslast (alles unternommen zu haben, um den Arbeitnehmer gegebenenfalls anders leidensgerecht einzusetzen) zu unterliegen. Bei Bedarf werden wir Sie bei der Vorbereitung und Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements gerne unterstützen.